Von Vjollca Hajdari | Welt.de: 22.07.2017
Ismail Kadare hat Albanien auf die Landkarte der Weltliteratur gesetzt. Ein Gespräch über die Treue zur Heimat und die Freiheit der Literatur in tyrannischen Zeiten
Seine Bücher sind in mehr als vierzig Sprachen übersetzt, er selbst wird Jahr für Jahr aufs Neue zu den Kandidaten für den Literaturnobelpreis gezählt (es wäre der erste für Albanien). Ismail Kadare, 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren, lebt heute überwiegend in Paris. Dort treffen wir ihn mit seiner Frau Helena, die ebenfalls schreibt, in seinem Lieblingscafé „Le Rostand“ am Jardin du Luxembourg. In wenigen Tagen erscheint Kadares neuer Roman „Die Verbannte“ (Aus dem Albanischen von Joachim Röhm. S. Fischer, 208 S., 20 €). Er ist eine Hommage an die jungen Frauen, die der Diktatur in Albanien zum Opfer fielen und sich zwischen der Verbannung ins Exil und dem Freitod entscheiden mussten, wenn sie sich der Bespitzelung ihrer Beziehungen und Gefühle entziehen wollten. Tyrannei ist das literarische Lebensthema von Kadare.
Die literarische Welt:
Herr Kadare, das Albanische verdankt Ihnen einen Platz in der Weltliteratur. Sind Sie sich dieser Errungenschaft eigentlich bewusst?
Ismail Kadare:
Kein Schriftsteller erschafft Literaturwerke für sich selbst. Und noch weniger entsteht Literatur von einem Volk für ein spezifisches Volk. Selbst wenn England Shakespeare ganz für sich selbst behalten wollen würde – läge es nicht in Englands Hand, darüber zu entscheiden. Literatur gehört uns allen. Sie ist universell.
Alle Jahre wieder gelten Sie als Kandidat für den Literaturnobelpreis. Wie gehen Sie damit um?
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Ich habe kein Unbehagen. Es ist ein bisschen wie Weihnachten. Die Literaturwelt darf für diese große Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit dankbar sein, auch wenn sie in einer Art und Weise naiv zu sein scheint.
Böse Zungen behaupten, Sie hätten den Preis bis heute nicht bekommen, weil Sie dem kommunistischen System nicht distanziert genug gegenüberstanden. Was entgegnen Sie solchen Vorwürfen?
Die Frage, welches Verhältnis die Literatur in und zu einem tyrannischen Regime einnimmt, ist kompliziert. Totalitäre Regime neigen dazu, der Literatur zu schmeicheln, um sie gleichzeitig nur umso besser zu überwachen, um ihr parallel mit Gefängnis oder Tod zu drohen. Paradoxerweise kann sich auch in einem grausamen Regime erstklassige Literatur entwickeln – und ein solches Regime wird sogar versuchen, aus dieser Literatur Profit zu schlagen. Diktatorische Systeme zeichnen sich nicht nur durch Willkür, sondern auch durch List aus. Über Jahre bereiten sie geheime Akten vor, um Schriftsteller zu beschmutzen. Nach dem Sturz des Kommunismus bin ich einer der Ersten gewesen, der die Öffnung der geheimen Archive gefordert hat. Vor einigen Jahren stieß ich zufällig auf einen Bericht des albanischen Geheimdienstes des Jahres 1982. In diesem Bericht geht es um eine Bestätigung dafür, dass der Schriftsteller, mit dem Sie hier und jetzt sprechen, Teilnehmer einer Verschwörung war, die angeblich einen Staatsstreich plante. Wir sprechen hier nicht über Kleinigkeiten, sondern über ernste Angelegenheiten – und zwar solche, die damals auch direkt zu einer Erschießung hätten führen können.
Was für ein Bericht ist das genau?
Es ist das Protokoll eines Verhörs mit dem albanischen Gesundheitsministers Llambi Ziçishti, der 1983 unter Folter starb. Es geht um die Details der „Verschwörung“ neben den Namen des Verhörers, der in Albanien bis heute unangetastet sein gemütliches Leben weiterführt. Er wurde von einer jungen albanischen Journalistin dazu gefragt und hat die Originalität des Textes bestätigt. Bezeichnend, dass sich keine der von Ihnen erwähnten „bösen Zungen“ für dieses Dokument interessiert, das etwas über den Umgang des diktatorischen Staats mit seinen Schriftstellern aussagt. Nach dem Sturz des Kommunismus war es nicht meine Art, damit zu protzen, dass ich ein Verschwörungsteilnehmer gegen den Staat gewesen sei, denn es stimmte ja nicht, aber die Geheimakte ist da. Sie zeigt, dass der Staat einen Sarg für mich, den Schriftsteller, bereit hielt und nur darauf wartete, den Befehl auszuführen.
Wie müssen wir uns einen Schriftsteller in einem diktatorischen Regime vorstellen?
Ein Schriftsteller ist kein Zauberer. Er kann das Fehlverhalten eines Landes, das auf den Abgrund zusteuert, nicht wegzaubern. Er trägt allerdings Verantwortung für sein Werk, auch wenn dieses unter widrigen Verhältnissen entsteht. Ich habe nicht erst über den Kommunismus geschrieben, als man es tun konnte, ohne sich in Gefahr zu begeben. Ich habe meine Werke nicht irgendwo am Ufer eines Schweizer Sees verfasst, sondern im stalinistischen Albanien. Bereits 1960 war ich ein bekannter Schriftsteller. 1970, nach einer Übersetzung ins Französische, wurde ich schlagartig auch in der westlichen Welt berühmt. Der paranoide Staat war auf diesen Erfolg völlig unvorbereitet. Um meine Person herum wurde nur geschwiegen. Erst später habe ich verstanden, dass man von mir erwartet hat, dass ich der westlichen Bourgeoisie sage: Ich gefalle Euch, doch ich bin euer Feind. Was nie geschah. Ich durfte mich sogar von westlichen Journalisten interviewen lassen. Doch Sie werden in all den Gesprächen kein Wort von mir finden, von dem die albanischen Stalinisten träumten.
War das schwierig?
Natürlich. Aber ich muss auch betonen, dass die westlichen Journalisten meistens Rücksicht auf meine schwierige Position genommen haben. Nicht alles war aber steuerbar. Ich kann mich an einen Fall erinnern, es war genau in Deutschland, in einem Berliner Fernsehkanal. Der Journalist stellte mir eine Frage, die für die aus dem Osten kommenden Schriftsteller sozusagen vernichtend war: „Herr Kadare, können Sie gegen das Regime schreiben?“ Ich bewahrte zum Glück Ruhe und antwortete mit einem Nein. Und schob erklärend nach: „In meinem Land ist dies gesetzlich verboten.“ Meine Antwort schien mutiger, als sie tatsächlich war. Während ich nach Albanien zurückflog, dachte ich an die Abertausende von Plakaten mit dem Slogan „Es lebe die Diktatur des Proletariats!“ Das ganze Land machte keinen Hehl daraus, dass es eine Diktatur war.
Wie sehen Sie Ihre Laufbahn im Rückblick?
Früher pflegte ich zu sagen: „Ich habe eine normale Literatur in einem abnormalen Land geschrieben“. Im Grunde habe ich mir immer gewünscht, dass meine Literatur über allen Etikettierungen steht. Ich habe rund 40 Bücher innerhalb und außerhalb Albaniens veröffentlicht und dabei weder die Karte des Dissidenten noch die des Konformisten ausgespielt. Ich bin einfach nur Schriftsteller gewesen. Ich betone das, weil man behaupten könnte, dass ich in drei verschiedenen Epochen Albaniens Schriftsteller gewesen sei: der Zeit des Realsozialismus von 1950 bis 1970, der sozialistischen Gesellschaft von 1970 bis 1990, mit einer doppelten Leserschaft: albanisch und international; und schließlich in der postkommunistischen Zeit. Kurioserweise war ich mit meinem Roman „Der Schandkasten“, der schon vor rund 40 Jahren in Albanien geschrieben wurde, für den diesjährigen Booker International Prize nominiert. Erlauben Sie mir, noch präziser zu werden: „Der Schandkasten“ wurde zu Zeiten des stalinistischen, bolschewistischen Albanien geschrieben.
Konnte das Buch damals in seiner Originalfassung erscheinen?
In dem Buch ist nicht eine Seite geändert worden. Wenn Sie mich fragen, ob der Roman dem Staatsterror gilt? Ja, auch das ist wahr.
1990 gingen Sie ins Asyl. Warum – und warum nach Frankreich?
Frankreich war für Albanien wie für viele Balkanvölker eine Inspirationsquelle für die historische Befreiung von der osmanischen Herrschaft. Alte Chroniken bezeugen, dass in Albanien sogar die „Marseillaise“ als patriotisches Lied gesungen wurde. Ich bat um politisches Asyl, nachdem ich keine Hoffnung mehr in den damaligen Präsidenten Ramiz Alia setzen konnte. Es war eine Zeit, in der viele Menschen glaubten, Alia könnte ein albanischer Gorbatschow werden.
Ihre Frau Helena, die hier mit uns sitzt, hat Sie immer begleitet.
Ohne ihre Unterstützung wäre mein Schriftstelleralltag nur schwer zu bewältigen gewesen. Sie war seit jeher meine erste Leserin. So etwas ist für Schriftsteller von unermesslicher Bedeutung. Ihr Literaturgeschmack ist zudem unbeirrbar. Ganz zu schweigen von Ihrer Unterstützung in allen Phasen des Lektorats.
Vergangenes Jahr wurde eine große albanische Frau heiliggesprochen, Anjezë Gonxha Bojaxhiu, die man im Rest der Welt unter dem Namen Mutter Teresa kennt.
Damit ist die Zeit, in der Mutter Teresa von der ganzen Welt bewundert, in Albanien jedoch totgeschwiegen wurde, endgültig demaskiert. Das kommunistische Albanien mochte Mutter Teresa aus zwei Gründen nicht. Erstens war sie gläubig, zweitens wurde sie als Teil der westlichen Welt betrachtet. Der Druck war so enorm, dass sie ihre Verwandten in Albanien nie besuchen durfte. Noch nicht mal Blumen aufs Grab ihrer toten Familienmitglieder legen.
Bei aller kommunistischen Versehrtheit Albaniens erstaunt eines: In Ihrem Land war man religiös immer tolerant. Wie erklären Sie das uns Nichtalbanern?
Ja, unsere religiöse Harmonie ist eines der seltensten Beispiele in der Geschichte der Völker. Die Albaner haben diese Eigenschaft zu allen historischen Zeiten beibehalten: Während der osmanischen Herrschaft, während der Zeit des albanischen Königreichs, während des Faschismus und sogar während des Kommunismus, also zu Zeiten, wo die Toleranz wohl für immer von Albanien verabschiedet schien. Und während des Zweiten Weltkriegs fanden auch Juden in Albanien Schutz.
Sie leben in Frankreich. Haben Sie auch eine Beziehung zu Deutschland?
Die zwei, drei Reisen, die ich vor dem Ende des Kommunismus tätigen durfte, führten mich kurioserweise nicht in die DDR, sondern ins „kapitalistische“ Deutschland. Historisch hat Albanien immer positive Gefühl für die Deutschen und Deutschland gehegt. Ich glaube, dass da viel Dankbarkeit dabei ist. So intensiv, wie sich deutsche Wissenschaftler mit der albanischen Sprache befasst haben, haben es wohl nicht einmal wir Albaner selbst getan. Das mag Sie wundern, aber unsere Sprache nahm für uns Albaner das Sinnbild eines Martyriums an, insbesondere nach der Zeit, als sie per Dekret vom Osmanischen Reich verboten wurde.
Apropos: Vor drei Jahren bezeichnete der türkische Präsident Erdogan das Kosovo als „Türkei“!?
Mir ist diese Äußerung bekannt. Ich kann dazu nur sagen, dass ich meinen Augen nicht traute, als ich darüber gelesen habe.